Ein Gespräch über Bilder zwischen Joachim Rautenberg und Prof. Dr. Emmanuel Alloa.

Joachim Rautenberg: Vor knapp dreissig Jahren veröffentlichte Gottfried Boehm einen Sammelband mit dem Titel «Was ist ein Bild?» Sie bevorzugen es, die Frage, was ein Bild sei, in die Frage, wann ein Bild sei, zu überführen. Warum ist das die bessere Frage?

Emmanuel Alloa: Der von Gottfried Boehm 1994 herausgegebene Sammelband Was ist ein Bild? – das sollte man als allererstes festhalten – war für den deutschsprachigen Raum absolut wegweisend. Zum ersten Mal wurde einer breiteren Leserschaft deutlich, inwiefern die Bildfrage aufgrund der medientechnischen und allgemeingesellschaftlichen Entwicklungen unumgänglich geworden war. Zugleich, und das betont Boehm gleich eingangs, sind und bleiben unsere seit 2500 Jahren verfeinerten Wissensformen grundsätzlich textlastig, sodass wir noch immer schlecht ausgerüstet sind, um uns an die Bildfrage heranzuwagen. Worin besteht die Bildfrage genau? In Gottfried Boehms Band schien es ausgemacht, dass sie wie folgt lauten muss: ‚Was ist ein Bild?‘ Tatsächlich wird damit die klassische philosophische Frageform herangezogen, wie wir sie seit Aristoteles’ Substanz-Metaphysik kennen: ti esti, ‚was ist x?‘ Als Disziplin, die Anfang der 1990er Jahre durchaus mit Ansprüchen einer Grundlagenwissenschaft antrat, ist es verständlich, wenn sich die damals noch junge Bildwissenschaft also gern bei dieser Was-ist-Frageform bediente. Nun wissen wir aber auch, dass die Was-ist-Frageform nicht die einzige, ja vielleicht nicht einmal die sinnvollste ist.

Der große Kunsthistoriker und Bildphilosoph Louis Marin gab nicht umsonst zu bedenken, dass die Frage nach dem Wesen des Bildes einer derartig quicksilbrigen Wirklichkeit wie dem Bildlichen schlecht gerecht wird (zudem, wenn man weiss, dass mache Sprachen wie das Englische zwei Begriffe aufweisen – image und picture – wo es im Deutschen nur einen einzigen gibt), und dass alle Versuche, messerscharfe sortale Definition aufzustellen, bislang misslangen. Vermutlich liegt es mit den Bildern ähnlich wie mit der Kunst: Bis heute hat noch niemand einen befriedigenden Einheitsbegriff vorgelegt, der durch die Kunstpraxis nicht selbst widerlegt worden wäre. Mich interessierte daher Nelson Goodmans Empfehlung, die Frage ‚Was ist Kunst?‘ einmal beiseite zu lassen, und stattdessen zu fragen, ‚Wann ist Kunst?‘, das heisst nach den Symptomen des Künstlerischen zu suchen. Auf Goodmans Spuren habe ich den Versuch unternommen, die Bildfrage statt als substantiell-extensionale vielmehr als symptomatologisch-intensive zu stellen.

Das klingt kompliziert, ist aber im Grunde relativ einfach: Wie kommt es, dass wir unter bestimmten Bedingungen ein rechteckiges Ding, das da an der Wand hängt, nicht nur als mehr oder weniger zufällige Zusammenkunft eines Keilrahmens, einer Leinwand und Öl ansehen, sondern als verblüffend realistische Darstellung einer Alpenlandschaft, in die wir uns hineinversenken können? Da trifft sich aus meiner Sicht eine Goodmansche Symptomatologie mit einer husserlschen Phänomenologie der Bildakte: Bildlichkeit ist keine Eigenschaft, die einer abzählbaren Zahl von Gegenständen in der Welt zukäme, sondern stellt sich in bestimmten situativen Gefügen ein, im Chiasmus von Blick und Objekt, und zwar als Bilderscheinung. Wer die Frage stellt, ‚Wann ist ein Bild?‘ kann zudem, wie ich zu argumentieren versuche, der Vielfalt der Bildformen (ob natürliche oder künstliche, kultische oder kommunikative, künstlerische oder operative Bilder) aber auch ihren Erscheinungsformen (ob statisches oder bewegtes Bild) weitaus besser gerecht werden.

 

JR: Im genannten Sammelband spricht Boehm vom «iconic turn», ebenfalls Anfang der 90er argumentiert W.J.T. Mitchell in artforum für einen «pictorial turn». Anders als beim «linguistic turn», der ja seinen Namen als rückblickende Beschreibung eines Paradigmen-Wechsels in der Philosophie erhalten hatte, lagen die beiden bildlichen «turns» zum Zeitpunkt ihres Ausrufens irgendwo zwischen Deskription und Präskription: Man konnte sie verstehen als Beschreibung des Aufkommens einer nie dagewesenen Präsenz bildlicher Phänomene in allen möglichen gesellschaftlichen Zusammenhängen einerseits, und als Forderung nach der Transformation eines wissenschaftlichen Paradigmas andererseits. Wie verstehe Sie diese Begriffe? Welche Bedeutung haben sie heute, dreissig Jahre nach ihrer Entstehung?

EA: Nun, die Frage ist berechtigt. Das hängt vermutlich stark vom Blickwinkel ab, was man als Kriterium eines erfolgreich etablierten wissenschaftlichen Paradigmas ansieht. Es gibt ja grundsätzlich zwei Wege: Entweder entsteht eine neue Wissenschaft, die sich speziell einem Gegenstandsbereich verschreibt, der bislang nicht eigens als Fach bedacht wurde. Oder aber, es findet eine Methodenreflexion in den bestehenden Fächern statt, inwiefern die besagten Fächer durch dieses Prisma betrachtet zu einem neuen Selbstverständnis gelangen. Letzteres fand zweifellos statt: Man braucht nur daran zu denken, wie viele Fächer in den vergangenen drei Jahrzehnten über ihre eigene Bildpflichtigkeit nachgedacht haben, von der Visual History über Ethnologie und Wirtschaftswissenschaften bis hin zur Medizingeschichte. Bei der Frage hingegen, ob es gleich einen neuen kurrikularen Wissenschaftszweig braucht, daran scheiden sich die Geister. Im Grunde mag man die gleiche Skepsis anbringen wie bei der Medienfrage: War es letztlich zielführend, dass man (und zwar weitgehend nur im deutschsprachigen Raum) die Medientheorie als eigenes Fach, nämlich als Medienwissenschaft etablierte? Schliesslich haben ja die Pioniere der Medientheorie, von Walter Benjamin bis Friedrich Kittler, ihr Provokationspotential daher geschöpft, dass sie ihre unbequemen Fragen innerhalb des etablierten Kanons stellten, und nicht jenseits davon, in eigens gezimmerten Gefäßen.

Wir müssten uns ausführlicher über die Eigenart der jeweiligen Wissenschaftssysteme unterhalten, denn ich vermute, das Denken ist jeweils viel stärker von kulturellen Rahmenbedingungen geprägt, als sich das so manch eine(r) eingestehen würde. Die Kluft zwischen deutscher Bildwissenschaft und anglo-amerikanischer Visual Culture ist jedenfalls gewaltig, und entsprechend konstellieren sich Methoden und Gegenstände wiederum ganz anders. Aber dass man neben Texten nun auch vermehrt Fotografien, Filme und allgemein bildliches Quellenmaterial als verlässliches Erkenntnismittel – ob in den historischen oder in den Gesellschaftswissenschaften – heisst natürlich noch lange nicht, dass man sich darüber schon Gedanken macht, worin die Bildlichkeit dieser Bilder liegt. Wenn Bilder nun auch als Texte angesehen werden, die man nach Informationen absuchen kann, ist über deren spezifische Form der Sinngenerierung noch nichts gewonnen. Darin scheint mir eben doch in dem (unter anderem der Gründung von Eikones zugrungegelegten) bildtheoretischen Ansatz nach wie vor ein entschiedener Vorzug zu liegen.

 

JR: Bildtheoretische Fragestellungen lassen sich, wie Sie andeuten, nicht einer einzelnen Disziplin zuordnen: Medienwissenschaft, Filmwissenschaft, Visual Culture Studies, Semiotik, Philosophie, Kunstgeschichte – sie alle haben Bilder zu ihren Gegenständen. Eikones verstand sich deswegen von Beginn an als ein interdisziplinäres Vorhaben. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass die Basler Bildforschung vor allem auf kunsthistorischem Boden gewachsen ist. Auch Ihren Schriften lässt sich eine Affinität ablesen, bild- und kunsttheoretische Fragestellungen zu verbinden. Wie sehen Sie das Verhältnis von Bild und Kunst? Was kann die Bildforschung von der Kunstwissenschaft lernen?

 

EA: In dem mehrjährigen transnationalen Forschungsprojekt Dynamis of the Image[1] haben wir uns die Frage gestellt, auf welchen unhinterfragten Prämissen der iconic beziehungsweise pictorial turn beruht, und welche Bildformen dabei möglicherweise zu kurz kommen. Es ist ja geradezu auffällig, dass wichtige Impulse für eine allgemeine Bildforschung aus der Kunstgeschichte kamen, also aus einer Disziplin, die sich ausschliesslich mit anspruchsvoll gestalteten Bildformen befasste, die um ihrer selbst willen angeschaut werden. Was Gottfried Boehm ‚starke Bilder‘ nennt, sind freilich nicht ausschließlich Kunstbilder, es steht ausser Frage, dass die ikonische Wende durchaus ‚modernistische‘ Merkmale trägt, etwa wenn es um die Behauptung der Autonomie der Bilder geht, um ihren Eigensinn sowie um ihre Abstraktheit oder Nichtgegenständlichkeit. Gegen einen solchen formalistischen Blick auf die science pictures etwa, bei denen es möglich wird, mit kunsthistorisch geschultem Blick die Bilder des Hubble-Teleskops etwa oder Magnetresonanztomographen zu analysieren, ist in den letzten Jahren vermehrt der diametral entgegengesetzte Zugang gesucht worden, nämlich in der Betonung der Einwegbilder, der operativen Bilder oder der algorithmischen Bilder, die angeblich nur von Maschinen für Maschinen konstruiert wurden.

Sosehr ich in im Rahmen des Dynamis-Projekts dafür plädiert habe, die modernistischen Prämissen der Bildtheorie kritisch zu reflektieren, um etwa auch nicht-europäische, nicht-moderne und nicht-künstlerische Bilder zuzulassen, und auch selber mit dem Begriff der operativen Bildlichkeit im Ausgang von Merleau-Ponty arbeite, sosehr halte ich es doch für problematisch, zu behaupten (so etwa Trevor Paglen) die meisten Bilder seien mittlerweile eh nur vom Maschinenblick für den Maschinenblick generiert. Meiner Grundthese treu, dass Bilder nicht primär transparente Zeichen oder opake Dinge, sondern (diaphane) Erscheinungen sind, kann es für Entitäten, die kein Register für Erscheinungen haben, ohnehin keine Bilder geben. Tatsächlich ‚sieht‘ die Maschine gar nichts: sie liest (man wird sich daran erinnern, dass Alan Turing eine paper machine baute; und heute geht es um optical reading devices). Die sogenannte machine vision setzt genaugenommen lediglich das Wiederkennen bereits bekannter diskreter Sinnelemente voraus, sodass hier nicht mit Antworten auf die Frage zu rechnen ist, worin die Prägnanz von Bildern besteht.

Hierin liegt meines Erachtens ein Grund, warum man am Beispiel künstlerischer Bilder über Bildlichkeit nach wie vor viel, wenn nicht am meisten lernen kann. Viele Kunstbilder zeigen, wie sie zeigen; sie weisen reflexiv auf, wie auf ihnen etwas zur Erscheinung kommt, was sich mit ihrem blossen materiellen Sosein nicht deckt. Wenn es bei künstlerischen Artefakten – anders als bei rein instrumentell-kommunikativen Gebilden – meistens so ist, dass die jeweilige Ausgestaltung (die Machart, die Pinselführung, das Tempo, die Größenverhältnisse und so weiter) nicht weggerechnet werden kann, ohne die Wirkung zu vereiteln, dann verlangen also Kunstbilder, dass wir genau hinschauen, ihnen Zeit schenken, und prinzipiell erst einmal nicht entscheiden können, was auf ihrem medialen Träger bedeutend und was unbedeutend ist. Kunstbilder haben insofern keinen ontologisch distinkten, sondern vielmehr einen für die Analyse von Bildlichkeit überhaupt exemplarischen Charakter.  

 

JR: Manche Bilder werden als Kunstwerke betrachtet – auf der anderen Seite des Spektrums befindet sich die Verwendung von Bildern als, wie Sie sagen «instrumentell-kommunikative Gebilde», man könnte auch sagen, als Zeichen. Das Verhältnis von Bild und Zeichen ist dabei ja ein umstrittenes: Es gibt eine philosophische Tradition, die eine Dominanz des Bildes im Nachdenken über Sprache diagnostiziert, die gebrochen werden müsse. Der späte Wittgenstein spricht in Bezug auf seine eigene, frühe Bildtheorie der Sprache doppelsinnig davon, dass ihn «ein Bild gefangen hielt.» Richard Rorty macht die Metapher vom «Spiegel der Natur» für viele verhängnisvolle Irrtümer im Nachdenken über das Verhältnis von Sprache und Welt verantwortlich. Einige Vertreter des «iconic turn» und auch Sie kehren den Spiess um: Sie behaupten, die Geschichte der Philosophie hätte das Bild zugunsten des Zeichens marginalisiert, nicht umgekehrt. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?

EA: Alles steht und fällt damit, ob man das Bild von der Abbildlichkeit her denkt oder nicht. Abbildlichkeit heißt dabei immer: Nachbild, d.h. das Bild, das nach der Sache kommt, logisch wie ontologisch, zeitlich wie sachlich nach- beziehungsweise untergeordnet. Rorty kritisiert ja weniger Bilder per se als den Repräsentationalismus, d.h. den Gedanken, dass Vorstellungen mentale Wiedergaben von Dingen sind, die ‚da draussen‘ existieren. Bei Wittgenstein ist es meines Erachtens noch subtiler – vielleicht spielen Sie darauf an, als sie sagten, seine Metapher sei „doppelbödig“ – jedenfalls heißt es ja eingangs, in den Philosophischen Untersuchungen, ein Bild habe ihn „gefangen“ gehalten. Wittgenstein denkt da ja an seine eigene frühere Sprachtheorie aus dem Tractatus, und die ist ein glasklarer Fall einer Abbildtheorie (wiewohl keine mimetische, sondern nur eine der Strukturisomorphie): Die Satzstruktur bildet eine Struktur von Welt ab. Dabei ist gerade der Wittgenstein-Nachlass der beste Beleg dafür, dass man sich von einer Abbildtheorie lossagen kann, ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten – und damit die Bilder aus der eigenen Theoriebildung zu verbannen: Die schätzungsweise tausend Zeichnungen, Skizzen und graphischen Randnotizen führen eindrücklich vor, inwiefern einer der wohl grössten Sprachphilosophen aller Zeiten zugleich ein Bildphilosoph in praxi war. Wittgensteins Bildern war das gleiche editorische Schicksal beschieden wie so vielen anderen Zeichnungen, Diagrammen und Skizzen anderer Philosoph:innen: In den Editionen ihrer Schriften verschwanden sie meist ganz, zugunsten reiner Textlichkeit. Ich habe mich selbst ausführlicher mit Husserls Zeitdiagrammen befasst, die in den Archiven einer genauen Aufarbeitung harren, von denen die meisten jedenfalls aber (mit Ausnahme natürlich des berühmten, von Heidegger herausgegebenen Diagramms) nie publiziert wurden.

Es wäre an der Zeit, zu fragen, welche Rolle Bildern nicht nur bei der Illustrierung, sondern auch bei der Entstehung von Gedanken zukommt. Sie sind dann kein kommunikatives Medium, das eine Botschaft von A nach B überträgt, sondern vielmehr ein generatives Medium, das Ideen zum Teil allererst aufkommen lässt. Dies dann als Zeichenrelation zu beschreiben, bei dem ein x für ein y steht (aliquid stat pro aliquo), greift eindeutig zu kurz. Wer es gern technischer haben will: Man kann nachweisen, inwiefern die zweistellige Prädikationsstruktur P(x,y) der Zeichen sich nicht gut auf Bilder anwenden lässt.   

 

JR: In Das durchscheinende Bild[2] versuchen Sie den Bildbegriff von einer Theorie der Wahrnehmung her zu erschliessen. Sie verknüpfen dafür antike Wahrnehmungstheorie mit der Phänomenologie des 20. Jahrhunderts. Dabei behaupten Sie, ein Bild sei etwas, was sich in einem Wahrnehmungsakt zeigt: Ein Bild sei eine Erscheinung, und Bildtheorie deshalb wesentlich Phänomenologie. Nun zeigen sich in einem Wahrnehmungsakt allerlei möglich Gehalte. Was ist das Spezifische einer bildlichen Erscheinung?

EA: Ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor. Ich würde nicht sagen (und habe es hoffentlich auch nirgends in dem Buch gesagt), dass ein Bild etwas ist, was sich in einem Wahrnehmungsakt zeigt. Dass sich etwas auf anschauliche Weise zeigt, setzt nicht unbedingt eine aktuelle Wahrnehmung voraus. Imaginative Prozesse mögen uns etwas plastisch vor Augen stellen, und doch würden wir nicht behaupten, dass das, was uns deutlich veranschaulicht wird, auch gerade mit unseren Sinnesorganen in diesem Augenblick von uns wahrgenommen wird. Es wäre also verkehrt, zu behaupten, jede Wahrnehmung sei bildlich oder umgekehrt, jedes Bild beruhe auf einer Wahrnehmung. Beide verbindet jedoch der Charakter der Anschaulichkeit. Ebensowenig wie eine reine Semiotik der Wahrnehmung auch nur annähernd erfasst, worin die sinnliche Fülle der Wahrnehmung besteht, kann eine Bildtheorie befriedigen, die nur zu erklären vermag, inwiefern Bilder referentielle Bezugnahmen sind. Bilder sind insofern primär von ihrem Erscheinungscharakter aufzuschließen, als sie an sich selbst zeigen, was durch sie angezeigt wird.

 

JR: Sie verknüpfen, wie gesagt, Wahrnehmungstheorie und Bildfragen. Husserl warnt in seinen Logischen Untersuchungen davor, sich in der theoretischen Erschliessung intentionaler Akte, worunter natürlich auch Wahrnehmungsakte fallen, an der Vorstellung vom Bild zu orientieren.[3] Dennoch beziehen Sie sich in Ihren Überlegungen stark auf Husserl und die phänomenologische Tradition. Wie verstehen Sie Husserls Warnung?

EA: Husserl hatte nicht immer ein gutes Händchen bei seiner Begriffsbildung, und das führt mitunter bei den Rezipienten zu Verunsicherungen. Aber gerade in dieser Angelegenheit kam man die Verwechslung rasch klären. Husserl verwendet ‚Bild‘ in jeweils ganz verschiedener Besetzung. In der Bemerkung in den Logischen Untersuchungen, auf die Sie verweisen, geht es um eine Theorie des Bewusstseins allgemein, in seiner Phänomenologie des Bildes (speziell im Husserliana-Band XXIII) geht es um die Bilder und die damit verbundenen Bewusstseinsakte. Wenn er in den LU vor den Bildern warnt, warnt er – auch da wieder einmal – vor einer repräsentationalen Vorstellung des Bewusstseins: Wir sollen, so Husserl, Bewusstsein nicht als Dunkelkammer des Geistes denken, in die sich ab und an die Schattenbilder der äusseren Wirklichkeit verirren (das meint Husserl, wenn er vom „Irrtum der Bildertheorie“ spricht, der zufolge es erstmal das Ding da ‚draussen‘ gibt, und dann nochmal dessen Stellvertreter im Bewusstsein). Ganz anders geht Husserl dann in seiner Phänomenologie bildlicher Akte vor, in der der Phantasia und dem Bildbewusstsein eine ganz zentrale epistemische Rolle zugewiesen wird. Der Unterschied zwischen perzeptiven und bildlichen Bezugnahmen allgemein, die auch als Formen des „Nichtgegenwärtigkeitsbewusstsein“ beschrieben werden, lässt sich auf die Differenz von Gegenwärtigung und Vergegenwärtigung zurückführen.[4] Was jedoch Wahrnehmung, Phantasia, Bildbewusstsein, Erinnerung verbindet, ist wiederum das Merkmal der anschaulichen Evidenz (im Unterschied zum bloßen Verweischarakter des Zeichenbewusstseins).

 

JR: Man hat auf verschiedene Weise versucht, das Besondere des bildlichen Sehens zu beschreiben. In Anlehnung an Wittgensteins Überlegungen zum Aspekt-Sehen gibt es die Charakterisierung bildlichen Sehens als ein Sehen-als. Richard Wollheim beschreibt es als ein Sehen-In («seeing-in»). Sie fügen dieser Reihe ein «Sehen-Mit» hinzu. Was unterscheidet das «Sehen-Mit» von den beiden genannten Beschreibungen bildlichen Sehens?

EA: In meiner Symptomatologie der Bilder spielen Aspektsehen und das Sehen-in durchaus eine gewisse Rolle. Dennoch verstehe ich beides jeweils anders als Wittgenstein respektive Wollheim. Man muss immer daran erinnern, dass das Aspektsehen für Wittgnstein ja keineswegs bildspezifisch sein soll: Hier werden keine Grundlagen einer Bild- sondern einer Blicktheorie gelegt. Nicht nur bei Bildern wie Jastrows Hasen-Enten-Kopf bewahrheitet sich das Merkmal der Aspekthaftigkeit: Das Sehen in Hinsichten zeichnet das Wahrnehmungsfeld insgesamt aus. Während der Begriff der Pfeife abstrakt und unanschaulich bleiben kann, lässt sich keine Pfeife im Allgemeinen wahrnehmen, sie zeigt sich immer in dieser und jener Hinsicht. (Selbiges gilt dann auch für gemalte Gegenstände: Selbst Magrittes gemalte Idee der Pfeife, die kein Mensch jemals geraucht hat, weist Verschattungen auf). Wenn Bilder etwas zeigen, so zeigen sie es in einer gewissen Hinsicht und genau daran scheitern ja meistens Bildlexika: Kein Bild hat den Abstraktionsgrad eines Begriffs, und der Gegenstand, der dann den Begriff exemplifizieren soll, ist meistens schon zu stark bestimmt, um als noch für alle anderen Aspekte des gleichen Gegenstands, aber auch für alle anderen Gegenstände der Gattung herhalten zu können.

Dass ich etwas als etwas sehe, es also in einer bestimmten Hinsicht und somit aspekthaft wahrnehme, ist ja zunächst einmal nichts Bildspezifisches, und genauso könnte man einwenden, dass man es – um jetzt auf Wollheims Beispiele des Sehen-in zu sprechen kommen –, wenn man im Milchschaum oder in den Wolken ein Gesicht sieht, nicht unbedingt mit Bildern zu tun hat. Für meinen Teil verstehe ich das Sehen-in vielmehr als eine differentielle Kategorie, die einen ersten Schritt in Richtung der Einbeziehung des Mediums unternimmt. Es lässt sich feststellen, dass für Bilder immer eine Minimaldifferenz gegeben sein muss: Was wir im Bild sehen, ist niemals schlicht das Bild selbst, sondern immer Anderes, das im Bild zur Erscheinung kommt (das Bild zeigt an sich selbst Anderes als es selbst; es zeigt, indem es sich zeigt, anderes als sein Sich). Auffällig ist nun an Wollheims Theorie des Sehens-in, dass er sich für das ,Worin‘ der bildlichen Erscheinung herzlich wenig interessiert; auch ihm geht es ja letztlich, wie schon Wittgenstein, eher um eine Blick- als um eine Bildtheorie. Beim Sehen-in wird etwas in etwas hineinprojiziert, wobei vielleicht das ein oder andere Strukturmerkmal des Trägermediums als Projektionsstütze dienen kann, alle anderen materiellen Eigenschaften aber aktiv ausgeblendet werden (genau deshalb lassen sich Gesichter unterschiedslos in Kaffeetassen, Wolken, Häuserfronten oder Baumrinden ausmachen). Ich bin der Meinung, dass man der Eigenleistung von Bildmedien erst dann hinreichend Rechnung trägt, wenn man die Rolle ihrer graphischen Oberflächenstruktur und überhaupt ihrer gesamten wahrnehmbaren Verfasstheit berücksichtigt. Wir sehen nicht trotz der auf der Leinwand verteilten Farbtupfer, sondern dank ihrer erkennbaren Binnenorganisation. Über das Bildmedium kann nicht schlicht hinweggesehen werden, weil der Inhalt nicht dahinterliegt, sondern in der Immanenz der Bilderscheinung, an der Oberfläche selbst entfaltet ist. Anders gesagt: Bilder generieren nicht dadurch Einsicht, dass wir durch ihre stoffliche Anordnung hindurchsehen, sondern dass wir an ihnen und damit immer auch schon mit ihnen sehen. Merleau-Ponty hat dieses Sehen-mit wie folgt auf den Punkt gebracht: Wir sehen entlang der Bilder bzw. „gemäß dem Bild“ (voir selon l’image). [5]

JR: Für Ihren Begriff des «Sehens-Mit» ist offenbar der Begriff des Mediums von zentraler Bedeutung. Den Ursprung der Genealogie dieses Begriffs machen Sie in der aristotelischen Wahrnehmungslehre aus: Das durchscheinende (diaphane) «Dazwischen», was zwischen Wahrnehmungsorgan und -gegenstand liegt. Gibt es von diesem ganz wörtlichen Sinn von «Medium» eine Verbindung zu dem, was heute landläufig unter «Medien», verstanden wird, also Fernsehen, Internet etc.?

EA: In meinen Augen eine ganz direkte. Wenn Aristoteles’ als Begründer der Medientheorie angesehen werden kann, dann deshalb, weil er die bahnbrechende Entdeckung machte, dass Medien keineswegs neutrale leere Kanäle sind, sondern eine eigene materielle Dichte besitzen, kraft derer sie überhaupt eine Form empfangen und übertragen können. In einen leeren Kanal könnte sich keine Form ‚einprägen‘. Diese elementare Wahrnehmungstheorie, bei der die Form von der Materie getrennt wird, ist gerade – und das ist ja der Clou daran – nicht immateriell, sondern verweist auf eine jeweilige eigene Textur des Mediums (das Wachs, dem der Siegelring aufgeprägt wird, kann nur deshalb eine Gestalt annehmen, weil es gewissermassen, mit Fritz Heider gesprochen, eine „lose Kopplung“ aufweist). Zwar sind Medien stets heteronom, sie stehen also im Dienst, nehmen von anderswoher ihre Aufträge entgegen und sprechen sozusagen mit fremder Stimme, aber das geschieht nicht trotz, sondern aufgrund ihres Eigensinns, ja man könnte sogar sagen ihrer Eigengesetzlichkeit. Die Analyse von derlei Elementarmedien, wie von Aristoteles vorgelegt, ist insofern aufschlussreich, als man hier mit der Illusion aufräumt, Medien glichen transparenten Fensterscheiben oder aber einem materielosen Tubus. Wenn Medien immer auch solchem ihr Wasserzeichen aufzwängen, was durch sie anderswo zur Erscheinung kommt, dann hinterlassen sie in der Verfertigung von Bedeutung immer schon Spuren. Das gilt natürlich auch für moderne Massenkommunikationsmedien: Fernsehen oder Internet sind keine neutralen Trägermedien, sondern prägen entscheidend mit, was und in welcher Gestalt etwas zu Sichtbarkeit gelangt. Kritische Medienkompetenz beginnt dort, wo wir lernen, an dem, was wir sehen, auch mitabzulesen, wodurch es zur Sichtbarkeit kam.  

JR: In Ihren jüngeren Veröffentlichungen beschäftigen Sie sich mit dem lateinischen Nachfolger des Diaphanen, dem Begriff der Transparenz, der sich in verschiedensten Zusammenhängen grosser Konjunktur erfreut. In dem Sammelband This obscure thing called transparency[6] bringen Sie eine Vielzahl von Disziplinen miteinander ins Gespräch. Welchen Beitrag kann die Bildtheorie in dieser Diskussion leisten?

EA: Neben diversen schon erschienen Arbeiten, darunter dem von Ihnen erwähnte Sammelband, arbeite ich in der Tat an der Fortsetzung von Das durchscheinende Bild, und setze dort an, wo die ideenhistorische Genealogie aufhörte. Es lässt sich genau datieren, wann der Begriff der Transparenz geprägt wurde, um nämlich das Diaphane aus der griechischen Theorie des Sehens für die lateinische Welt wiederzugeben. Obwohl zunächst einmal nichts an der Begriffsübertragung auszusetzen ist, ist es doch auffällig, dass der lateinische Begriff im Laufe der Jahrhunderte, vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit hinein, einen Bedeutungswandel durchmachte. Irgendwann geht es weder um das trans noch um das parens, weder um die Erscheinung noch um das Übertragungsmedium. Durch die allmähliche Moralisierung des Begriffs, bis hin zu unserer heutigen Zeit, wo sie zum Begriffsfetisch in Politik und Öffentlichkeit aufgestiegen ist, wird Transparenz zum Faustpfand eines Denkens, dem es um die Austreibung der Erscheinungen und der Vermittlungen zugunsten einer schatten- und differenzlosen Selbstübereinkunft geht. Das hat freilich alles beunruhigende politische Nebenwirkungen für eine Gesellschaft, in der die Selbstentblösssung zur moralischen Tugend aufstieg. Was die Ästhetik und Bildtheorie hier leisten kann? Nun, vielleicht schon einmal eine Erinnerung daran, dass die bildkünstlerischen Avantgarden der 1920er Jahre etwa mit durchsichtigen Werkstoffen gearbeitet haben. Anstatt eines prinzipiellen Verdachts gegen jede das Konstruierte (denn da vermuten die heutigen Transparenzfanatiker ja immer schon die Spur des Inauthentischen) experimentieren diese Künstler:innen  (ich erwähne hier stellvertretend nur László Moholy-Nagy) mit der Möglichkeit, dass sich gegenseitig ausschliessende Dinge plötzlich hintereinander beziehungsweise durch-einander gesehen werden. Anstelle einer Transparenzmoral, in der die Dinge immer nur mit sich selbst identisch sein können, sozusagen eine Ästhetik der diaphanen Durchlässigkeit, in der die Dinge und Personen immer schon mehr und anderes sind, als wir meinen. Eine ganz andere Art und Weise ist das, den ‚Durchblick‘ zu haben.

JR: Noch eine abschliessende Frage: Sie waren einige Jahre selbst Mitarbeiter am NFS-Bildkritik in Basel. Was sind Ihre Wünsche oder Ratschläge an junge Forschende, die in diesen Tagen am Graduiertenkolleg eikones arbeiten?

EA: Ich hatte das grosse Glück, etwas von der Gründerzeitstimmung mitzuerleben. Es war intellektuell aufregend, in dieser Aufbauphase mit dabei zu sein und die interdisziplinären Debatten mitgestalten zu können. Ich selbst hatte mich bereits früh, durch die Lektüre Gottfried Boehms angeregt, mit Bildfragen befasst (im Jahr 1999-2000 organisierte ich an der Universität Freiburg i.Br. eine Vortragsreihe Vom Auge zur Hand über bildästhetische und bildphänomenologische Fragen), aber die personelle und institutionelle Konstellation am Rheinsprung nach der Gründung von eikones war dann doch noch einmal etwas ganz Besonderes. Was meine Wünsche und Ratschläge wären? Vielleicht dass auch für die neuen und jüngeren Kohorten der Forschenden bei eikones etwas von dieser elektrisierenden Wirkung spürbar bleibt, die unsere Arbeit damals unter Strom setzte. Theoriebildung an Objekten, die man gemeinsam aus verschiedenen methodischen Perspektiven analysiert, ist und bleibt eine der ergiebigsten Formen der Wissenschaft. Ich bin jedenfalls der festen Überzeugung, dass die Bildfrage eine Herausforderung darstellt, die beileibe noch nicht abgehakt ist, und ohnehin nur im Rahmen eines kollektiven und interdisziplinären Forschungslabors angegangen werden kann. Unter Umständen ist das Graduiertenkolleg ja für eine solche Arbeit genau das richtige Format!

JR: Vielen Dank!

Emmanuel Alloa ist seit 2019 Ordentlicher Professor für Ästhetik und Kunstphilosophie an der Universität Freiburg. Er studierte Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte in Freiburg (D), Padua, Berlin und Paris. 2009 wurde er an der Universität Paris I-Panthéon und der Freien Universität Berlin mit einer binationalen Dissertation in Philosophie promoviert. Er lehrte am Département d’arts plastiques von Paris 8, sowie am Collège international de Philosophie, war Postdoc am NFS Bildkritik eikones (Basel) und Assistenzprofessor für Philosophie an der Universität St. Gallen.

Joachim Rautenberg ist Doktorand am eikones Kolleg in Basel. Er forscht zur Bildtheorie in Ludwig Wittgensteins „Tractatus“.

Das Gespräch wurde im März 2023 schriftlich geführt.

[1] Emmanuel Alloa und Chiara Cappelletto (Hg.), Dynamis of the image: moving images in a global world, 2020.

[2] Alloa, Emmanuel. Das durchscheinende Bild: Konturen einer medialen Phänomenologie. Zürich: Diaphanes, 2011. Übersetzung: Looking Through Images: A Phenomenology of Visual Media. New York: Columbia University Press, 2021.

[3] Hua XIX/1 B1 421 ff.

[4] Emmanuel Alloa, Gegenwärtigung und Vergegenwärtigungen. Wahrnehmung, Erinnerung, Fantasie, in: Emmanuel Alloa et al. (Hg.), Handbuch Phänomenologie, Tübingen 2023, 185–191.

[5] Hierzu ausführlicher Emmanuel Alloa, Resistance of the sensible world : an introduction to Merleau-Ponty, New York 2017, Kap. "Thinking According to the Image" (S. 58-63).

[6] Alloa, Emmanuel. This obscure thing called transparency: politics and aesthetics of a contemporary metaphor. Leuven: Leuven University Press, 2022.